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Seine Promenade

(Eine Kurzgeschichte von Ingo Wölbern, verfasst am 15./16.04.1988)




Zwar war der Mond schon aufgegangen, was aber sollte das schon bewirken bei diesem wolkenverhangenem Himmel.
Jeden Abend ging er diese Straße entlang, an dieser Laterne vorbei, vorbei an der Laterne. Doch - doch, der Mond schien schon, doch nicht hier unten.
Er hielt an.
Vor ihm lag auf dem Boden eine Zeitung. Es war eine Ausgabe vom vorherigen Dienstag. Sie roch nach Fisch, nach mittlerweile schon leicht fauligem Fisch.
Vor ihm war ein Gulli, der sanft mit ebenso dunklen olivgrauen Tönen wie die Straße selbst den dunklen Asphalt unterbrach, um ihm die Feuchtigkeit zu nehmen, die gerade noch bläulich schimmernd zwischen den Stangen des Gullideckels in die Tiefe der Kanalisation entschwand. Es hatte kurz zuvor geregnet, und so schimmerte die Straße ihr schönstes Grau, das sie aufzubieten hatte.
Ein schwacher Ölfilm zog sich quer über die Straße, glänzte in tausend Farben, spiegelte jeden Strahl der Laterne einzeln zurück, vielfach gebrochen.
Zuerst hatte er in den Gulli spucken wollen, jetzt mochte er er das nicht mehr tun. Es wäre verachtend gewesen gegenüber dieser Farbenpracht. Er wollte die Frabenpracht nicht beschmutzen - schlimm genug, dass sie in den Gulli floss und mit der Dunkelheit des Rinnsals anbändelnd verschwand.

Der Wind hatte die Zeitung erfasst. Sie wickelte sich um seine Beine. Er hob sie auf. Noch ganz von den eben gewonnenen Eindrücken benommen kam ein leichter Zorn in ihm auf. Wer nur hatte diese Zeitung hier hinwerfen können, mitten in seine saubere Straße hinein!
Während er so stand, überlegte er, es wäre wohl besser, den Weg fortzusetzen, bevor die Farbenpracht ihm zur Gewohnheit gedieh. Aber er wollte ja am nächsten Abend wieder etwas davon haben, vorausgesetzt natürlich, er arbeitete wieder so lange, bis es dunkel war.
Er kam nämlich gerade von der Arbeit nach Hause - er war Maschinenbauer! Er benutzte den Abend immer, um diese Straße zu durchqueren, weil er hier so oft dieses Farbenspiel beobachten konnte. Nur im Sommer war es dafür zu hell. Er hasste den Sommer.
Er ging immer nordwaärts die Straße hinauf, südwärts hinunter. Die Laterne war schon immer sein Anziehungspunkt gewesen.
Jetzt setzte er sich wieder in Bewegung, südwärts die Straße hinunter.
Der Parkplatz war auch hell erleuchtet, eine Laterne gleicher Art. Sein Auto fand er schnell. Er setzte sich hinein, kontrollierte noch einem die Kontrollleuchten, besonders die des Ölstandes. Seit ein paar Tagen leckte Öl aus dem Motorblock. Seitdem fuhr er morgens eine andere Strecke, damit auch andere Leute von diesen Farben erfahren sollten. Überall hin, wo Laternen standen. Aber Abends musste er immer diese Strecke fahren, die Straße durchqueren. Hier war seine Promenade.
Jetzt aber musste er nach Hause.
Es gab zum Abendessen Kaffee, wie immer, keinen Tee, wie immer.

Er stach mit seiner Gabel in seine Bratkartoffeln. Eine Kartoffel blieb stecken. Als er sie zum Mund führen wollte, glitt tropfend ein winziger Tropfen Öl in seinen Kaffee. Sogleich stellte sich ein Schauspiel ein: Tausend Farben in unzähligen Facetten und Nuancen. Er fühlte sich erinnert an seine gerade erlebte Promenade. Die Laterne stand wieder vor ihm, er konnte den Fischgeruch der Zeitung riechen, der er vorsichtshalber zerfetzt, in den Wind gestreut hatte!
Seine Frau wusste nichts von alledem. Aber am Sonntag Abend wollte er sie hinführen, wollte ihr zeigen, was ihn so froh machte. Sicher würden ihr die vielerlei Farben gefallen. Sie hatte ja den ganzen Tag in diesem widerlichen Haus zu tun, wo sie solche Pracht wohl nicht zu sehen bekäme - in dieser Enge. Vielleicht sollte er auch die Kinder mitnehmen?

Dann setzte er sich vor den Fernseher. Es lief ein Naturfilm - wie langweilig, wie vorsintflutlich, wie veraltet!
Er schaltete um, das andere Programm. Es lief ein Dokumentarfilm: "Leben der industriellen Revolution". Das war seine Lektüre, sein Stück Geschichte. Warum nur seine Frau nie zusah?
Als er am nächsten Morgen aufwachte, vom Ton seines Radioweckers zärtlich umgeben, sah er einen Zettel auf dem Nachttisch. Seine Frau war weg, die Kinder mit ihr - nanu!
Der Ton des Weckers verstummte langsam. Er zerknüllte den Zettel, warf ihn beiseite, das Leben müsse schließlich weitergehen.
Am Abend stand er wieder bei seiner Laterne, stand alleine bei seiner Laterne und erzählte alles seiner farbenfrohen Welt.